„Sieh
mich an, blick nicht weg, mein Kind“, selbst seine Stimme klang überirdisch
schön. Warm, stark und etwas, was sie nicht einordnen konnte. „Deine Verbannung
war unrecht, aber unumgänglich.“ Sanft strich er ihr durch das blonde Haar.
Wieder schien es zu knistern und schien in der Luft zu schweben. Sie blickte
ihn fragend an. Die tiefgrünen Augen voller unbeantworteter Fragen. „Und genau
das ist das Problem“, lächelte er und zog sie sanft auf die Beine. „Komm mit
und du wirst verstehen.“
Er
ergriff ihre Hand und drückte sie sanft. Ohne ein Wort setzte er sich in
Bewegung und zog das Engelsmädchen, welches kein Engel mehr war, hinter sich
her. Und Ania konnte nicht anders. Sie lief ihm einfach hinter her. Ohne zu
fragen. Ohne eigenen Willen. Weit führte er sie, führte sie durch die Welt und
zeigt ihr die Menschen. Die Menschen wie sie wirklich waren und was sie nur
vorgaben zu sein. Und diese Illusion zerfiel in seiner Gegenwart. Er war die
Wahrheit und brachte genau diese unter die Menschen. Sie konnten sich dem nicht
erwehren. Sie waren machtlos. Machtlos gegenüber der Wahrheit. Und der ein oder
andere brach darunter zusammen. Zu sehr lebten sie in ihrer eigenen Welt und zu
sehr konnten sie nicht begreifen, was für Monster sie doch eigentlich waren.
Nur wenige lächelten, wenn die Wahrheit zu ihnen kam. Sie waren rein, rein und
ohne Makel, weil sie Makel hatten und diese sich selbst eingestanden. Nur wer
sich sah wie er war, war in der Lage die Wahrheit zu ertragen. Alle anderen
wurden von der Wahrheit gnadenlos gequält, wenn die Illusion von ihnen abfiel.
Und nicht wenige starben unter dieser Last. Nur einige wenige, wie gesagt,
fühlten sich stärker als je zuvor. Doch was hat das mit dem Engelsmädchen zu
tun? Nur Geduld, die Wahrheit braucht ihre Zeit. Niemand hat Gewalt über sie.
Sie entscheidet selbst, wann und wem sie erscheint. Ohne Gnade. Ohne Hast. Ohne
Geduld. Einfach nur Wahrheit.
„Sieh
diese Menschen, sie sind was du nie sein durftest und doch bist“, seine Stimme
war sanft, doch sie erschrak Ania dennoch zu tiefst. Seit Stunden hatte er
geschwiegen, sie nur an der Hand hinter sich her gezogen, ohne Rücksicht auf
sie zu nehmen. Und sie hatte es sich von ihm gefallen lassen. Ohne ein Gedanken
daran zu verschwenden. Er zeigte ihr Familien, die sich liebten und die reinen
Herzens waren. Aber er zeigt ihr auch den Krieg. Den Tod. Die Einsamkeit. Die
Qualen der Menschen.
„Einst
waren die Menschen rein gewesen. Kein Fleck hat ihr Herz getrübt, doch dies ist
seit langem Geschichte. Nur die wenigsten Menschen wissen noch, was Liebe und
Geborgenheit ist. Alle suchen danach, aber nur die wenigsten sind in der Lage
die wirkliche, die wahre Liebe zu finden.“ Resigniert klang er, als er die
Menschen beschrieb. „Weißt du, kleines Engelsmädchen, einst haben mich die
Menschen fasziniert. Sie waren so … neugierig. So lebensfroh und von einer
Reinheit, wie es heute nur noch Tiere auf dieser Welt sind. Und nicht mal die
sind alle noch wie sie einmal waren. Aber die Menschen, seit Jahrhunderten sehe
ich mir an wie sie wachsen, wie sie reifen und dann alles wieder zerstören.
Seit Jahrtausenden wiederholt sich dieses Spiel. Ein Spiel, welches sie Leben
nennen.“ Er seufzte traurig und zum ersten Mal erschienen Risse in seiner
makellosen Maske. Das strahlende Licht um ihn herum flackerte und erlosch kurz,
bevor er sich wieder zu seinem alten Glanz entwickelte. Ania bemerkte es nicht
einmal, sie starrte auf die Welt, die Welt die für sie so kalt war. „Die
wenigen Menschen, die noch rein und unschuldig in ihrem Denken sind, sterben
aus. Es sind so wenig geworden, niemals werden sie wieder zu ihrer alten Stärke
zurückkehren. Aber genau diese Menschen waren es, die mich so interessierten.
Die mich zu einem Ausgestoßenen machten. Die mich aus dem Himmel vertrieben.“
Ania zuckte erschrocken zusammen und starrte ihn an. „Ja, Engelsmädchen, auch
ich wurde aus dem Himmel vertrieben. Ich interessierte mich zu sehr für die
Menschen und ihr Verhalten und ich begann Fragen zu stellen. Doch Fragen sind
im Himmel nicht erwünscht. Man gebot mir zu Schweigen, doch lange konnte ich
meine innere Stimme nicht zurückhalten. Und ich begann wieder zu fragen.“ In
seinen braunen Augen spiegelten sich dunkle Schatten der Vergangenheit und
wieder flackerte sein Licht.
„Ich
… ich hab doch nur eine einzige Frage gestellt“, stammelte Ania. Ihre Stimme
war samt, von einem glockenklaren Klang durchzogen. Eine Stimme, die einem
Gänsehaut über den Rücken laufen ließ. Eine Stimme, der man sich einfach nicht
entziehen konnte.
„Ja
Engelsmädchen, es war nur eine Frage. Aber die Frage … diese Frage hättest du
niemals stellen dürfen“, seine Stimme war plötzlich mit Wut gemischt. Das Licht
um ihn herum färbte sich flammend rot und seine Augen sprühte vor unterdrücktem
Zorn. Ania schreckte vor ihm zurück, doch er ließ ihre Hand nicht los. Fast
krampfhaft hielt er sie fest.
„Du
hast mit deiner Frage alles in Frage gestellt. Wirklich alles. Die Welt und den
Himmel. Die Hölle und das Paradies. Wage es niemals die Frage zu stellen, sonst
wirst du alles verlieren. Sieh dir die Menschen an. Sie haben diese Frage
gestellt. Und nun? Sieh sie dir genau an. Sie sind gefangen in ihrer eigenen
kaputten und dunklen Welt. Und sie haben sich selbst dorthin gebracht. Sieh sie
dir an. Sind sie glücklich? Nein, antworte nicht. Denk darüber nach und
beantworte diese Frage. Soll ich es dir sagen? Nein sie sind nicht glücklich,
nicht in ihren Herzen. Oh ja, sie haben noch Herzen. Doch nur die wenigsten
sind warm. Die meisten sind aus Dunkelheit gemacht. Sie sind einsam. Einsam und
allein und versuchen alles um dieses Gefühl zu verstecken. Sieh dir diese Welt
an. Sie ist dunkel. Siehst du die einzelnen Lichter? Das sind die wirklich
glücklichen Menschen. Die sich mit dem Zufrieden geben, was sie haben. Die ein
Herz haben, in dem jemand wohnt. In denen die Liebe noch lebt. Aber sieh diese
Lichter, wie wenige es sind und wie viele waren es. Damals. Damals als ich auf
diese Welt kam.“ Traurig blickte er sie an. Erschrocken gewahr sie der Tränen
in seinen Augenwinkeln. „Wenn Engel beginnen wie die Menschen zu werden, haben
sie kein Anrecht mehr auf den Himmel. Dann sind sie genauso verloren wie diese
armen Kreaturen.“ Sein Arm glitt durch die Luft wie um alles zusammenzufassen.
Die ganze Welt zusammenzufassen.
„Engelsmädchen,
die Welt zerbricht. Sie zerbricht an Hass und Neid. An Eifersucht und
Verachtung. Liebe ist käuflich und für die meisten reicht es um nicht mehr
allein zu sein. Aber die anderen, die anderen verkümmern ohne Liebe. Fühlst du
die Dunkelheit? Ja, du fühlst sie. Fühlst sie seit du auf dieser Welt bist und
in dieser Dunkelheit wirst du fortan leben. Kleines gefallenes Engelsmädchen.“
Sein Blick fand den ihren und hielt ihn fest. „Geh, wandle durch die Welt und
bring den Menschen ein wenig Licht zurück. Du bist kein Engel mehr, du bist nun
ein Wanderer. Zeige den Menschen das Licht. Zeige ihnen die Liebe. Zeige ihnen
die Wahrheit. Und bring ein wenig Wärme in die Welt zurück. Dies ist ab sofort
deine Aufgabe und du wirst weiterhin ein wenig Engel sein.“ Mit diesen Worten
ließ er Anias Hand los. Dunkelheit umfing sie und die alte Kälte. Kälte die sie
nun lindern musste.
„Viel
Glück, kleines Mädchen. Bring das Licht zurück und du selbst wirst das Licht
wieder entdecken.“ Er entfernte sich Schritt für Schritt von ihr. Das Leuchten
wurden schwächer. Er verblasste und hinterließ nur eines. Hinterließ die
Wahrheit. Und sie empfing sie mit Freude. Sie war stark und sie war rein. Die
Wahrheit hatte keine Macht über sie. Die Wahrheit zwang sie nicht in die Knie.
Die Wahrheit war das leuchtende Licht, der Wegweiser. Ania lächelte. Ihre
zerfetzten Flügel glätteten sich. Fügten sich wieder zusammen. Erstrahlten
schneeweiß und umgaben ihren Körper wie ein Schutzschild. Sie war kein Engel
mehr, kein Engel im Himmel. Doch sie war
immer noch ein Engel, ein Engel auf Erden. Seit diesem Tag zog sie durch die
Welt und zeigte den Menschen die Liebe und brachte die Wärme zurück in ihre
Herzen.
Die
Frage, die Ania aus dem Himmel vertrieb, war so einfacher Natur, dass selbst
Kinder imstande waren, sie zu stellen. Die Frage lautete: Warum?
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Mit Absenden eines Kommentars und beim Setzen eines Hakens für weitere Benachrichtigungen auf Folgekommentare erklärst Du Dich einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) eventuell abgespeichert und von Google weiterverarbeitet werden.
Weitere Informationen findest Du hier:
Hier findest Du die Datenschutzerklärung von Google:
Datenschutzerklärung von Google/Blogger
Hier findest Du die Datenschutzerklärung von dieser Website:
Datenschutzerklärung von A winter story