Sie schrak
aus dem Schlaf. Ihr Atem ging unruhig und ihr war kalt. Zitternd schlugen ihre
Zähne aufeinander, während kalter Schweiß sich auf ihrer Haut perlte. In ihr
rumorte es. Dieser Traum. Immer wieder dieser eine Traum. Das erste Mal hatte
er sich ihr im Alter von sieben Jahren offenbart. Vorher hatte sie nie etwas im
Schlag gesehen. Hatte nicht einmal gewusst, was das war, das Träumen. Gewiss,
sie hatte bereits davon gehört, sich aber nie vorstellen können, was dies
wirklich war. Und fragen kam nicht in Frage. Sie war alleine, niemand wollte
etwas mit ihr zu tun haben. Was sollte sie da schon träumen. Einsamkeit, dies
allein hatte ihr Leben bestimmt. Trotz Marthas Liebe war sie einsam, schon
immer gewesen. Sie wusste nicht wer sie war. Welchen Platz sie in der Welt
haben sollte. Und dann kam der Traum. So hell. So realistisch. So beängstigend.
Lea wusste, dass es ein Traum gewesen war. Und gleichzeitig wusste sie, dass es nicht nur ein Traum gewesen sein konnte. Ihre Beine waren nass, aber nicht nass vor Schweiß, sondern nass von Regenwasser und Tau. Sie konnte es riechen. Es gehörte nicht in ihr Bett. Genauso wenig wie der Dreck in ihr Bett gehörte. Feuchter, lehmiger Erdboden war auf ihrem Laken verschmiert. An ihrem Nachthemd hingen kurze, graue Haare. Solche, wie sie Hunde verlieren. Oder eben ein Wolf.
Lea wusste, dass es ein Traum gewesen war. Und gleichzeitig wusste sie, dass es nicht nur ein Traum gewesen sein konnte. Ihre Beine waren nass, aber nicht nass vor Schweiß, sondern nass von Regenwasser und Tau. Sie konnte es riechen. Es gehörte nicht in ihr Bett. Genauso wenig wie der Dreck in ihr Bett gehörte. Feuchter, lehmiger Erdboden war auf ihrem Laken verschmiert. An ihrem Nachthemd hingen kurze, graue Haare. Solche, wie sie Hunde verlieren. Oder eben ein Wolf.
Zu scharf
waren die Erinnerungen an den Traum, zu genau für gezeichnete Bilder. Lea
argwöhnte, dass dies kein Traum war. Es war nicht anders zu erklären. Das
Wasser, der Dreck, die zerkratzte Haut. In jener Nacht hatte sich etwas
verändert, aber Lea hätte nicht genau sagen können was.
Danach hatte
sie den gleichen Traum fast jede Nacht gehabt. Und diesmal waren die Bilder
wirklich nur Träume gewesen. Niemals wieder hatte sich Regenwasser oder Dreck
in ihrem Bett gesammelt . Es war nur noch ein Traum, ein einfacher Traum.
Vorsichtig
schlug Lea die schweißnasse Bettdecke zur Seite und schwang ihre Beine aus dem
warmen Bett. Nur mit ihrem Nachthemd bekleidet fror sie in der kühlen
Nachtluft. Der Boden unter ihren nackten Füßen war hart und kalt. Raue Fasern
kribbelten an ihren Fußsohlen und verstärkte die Gänsehaut auf ihren Armen.
Vollkommen unbewusst wünschte sie sich ein warmes Fell und ein angenehmes warmes Kribbeln breitete
sich in ihrem gesamten Körper aus. Kurz schien sie die Kontrolle zu verlieren,
dann sog sie scharf Luft durch ihre Nase ein und kämpfte gegen ihren eigenen
Willen an um nicht ihr Innerstes zu entfesseln. Mit einiger Kraft gelang es ihr
dann jedoch den Kampf zu gewinnen. Mit einem kurzen Kopfschütteln löste sie
sich ganz von ihren wölfischen Gedanken und ihre Eckzähne blitzten kurz hervor.
Eckzähne, die nur minimal länger waren als die eines normalen Menschen, aber
doch so lang, um den einen oder anderen schiefen Blick auf sich zu ziehen. Denn
die althergebrachten Legenden von
Vampiren und Werwölfen waren den Menschen in Fleisch und Blut
übergegangen. Doch Lea wusste, was sie war, sie war weder Vampir noch Werwolf,
sie war etwas völlig anderes. Sie war eine Feach. Sie wusste, was und wer sie
war. Denn auch Leandriis war nicht der Name, der ihr von den Menschen gegeben
worden war, diesen Namen hatten ihr einst die Wölfe gegeben. Am Anfang hatten
die Menschen versucht, ihr einen neuen Namen zu geben. War Leandriis doch
schließlich einer der alten, unheimlichen Namen, der aus einer tiefen und
dunklen Legende stammte. Wynter, dies war der Name, den die Menschen für sie
hatten benutzen wollen. Doch Lea hatte sich instinktiv dagegen verschlossen.
Keine Reaktion folgte je auf die Nennen Wynter. Erst als Martha sich erbarmte
und sie Lea nannte, veränderte sich ihr Verhalten. Dieser Name war nicht so
abscheulich und mysteriös wie Leandriis und die meisten konnten sich dazu
durchringen ihn auszusprechen. Nicht, dass jemals viele Bewohner des Dorfes mit
Lea redeten oder auch nur über sie gesprochen hätten. Die meiste Zeit war das
Mädchen einfach Luft für sie, existierte nicht. Die Menschen gingen ihr aus dem
Weg. Kurze Blicke streiften sie, wurden jedoch sofort wieder abgewandt, wenn
sie ihrerseits zurück sah. Tuscheln das konnten die Leute, aber nur in der
sicheren Gesellschaft. Sonst würde nicht ein Wort über sie fallen, zu sehr
hatte sich die Furcht in ihre Herzen eingenistet. Doch sofern sie sich in einer
Gruppe waren, redeten sie schlecht über sie und zogen über sie her. „Dämondenmädchen,
Teufelskind“ und andere Bezeichnungen säumten ihren Weg. Und dies waren noch
nicht einmal die schlimmsten Bemerkungen. Am Anfang hatte sie es noch verletzt,
weil sie nicht anders hatte sein wollten. Hatte geweint, sich vor Zorn verzerrt
und vor Einsamkeit zerfressen. Und dann war der Traum gekommen. Der Traum, der
ihr gezeigt hatte, was und wer sie wirklich war. Erst danach hatte sie
angefangen, es nicht mehr an sich heran zu lassen. Hatte ihr Herz in eine
schützende Hülle voller Gleichgültigkeit verschlossen. Lea fing an in ihrer
eigenen Welt zu leben. Sie war nicht auf die Gesellschaft der Menschen
angewiesen, die sie nicht mochten. Die wenigen Menschen, die Lea kannte und die
ihr freundlich gesinnt waren, sah sie nur selten. Aber das war ihre Welt.
Wie das
kleine Mädchen, welches immer ein kleines Mädchen bleiben wird, dachte Lea. Sie
hatte ähnliche Probleme wie Leandriis selbst, weil sie nicht normal war. Zooey,
so ihr Name, war süß. Süß wie eine kleine Puppe. Lange, gewellte blinde Haare
umrandeten ihr zierliches Gesicht, tiefblaue Augen leuchteten auf heller Haut,
die wie Porzellan schimmerte. Zooey wurde von ihrer Mutter abgöttig geliebt und
wie eine zerbrechliche Glasfigur gehandelt. In Zooey hatte Lea für kurze Zeit
eine Gleichgesinnte gefunden, da die Dorfbewohner das kleine Mädchen genauso
abschätzig behandelten wie sie. Doch bald schon hatte Zooeys Mutter ihr den
Umgang mit dem Mädchen verboten. Sie wachte nun mit Argusaugen über ihre
Tochter und ließ niemanden an sie heran. Lea schon gar nicht, dieses
Dämonenmädchen. Vollkommen abgeschottet hatte sich die verrückte Frau und
verhätschelte ihre Tochter, die immer kränker und schwächer wurde. Dann, von
einer Nacht auf die andere, waren beide verschwunden. Niemand wusste wohin. Und
niemand hatte je wieder von ihnen gehört oder sie gesehen. Einige Zeit wurde
intensiv nach den beiden gesucht, aber nach und nach kehrte das Leben in seine
normalen Bahnen zurück und Mutter und Tochter waren bald schon vergessen.
Und dann war
da ja noch der alte Mann, der in einer kleinen Holzhütte mitten im Wald lebte.
Niemand wusste wie alt dieser Mann wirklich war. In jedermanns Erinnerung war
er schon immer da gewesen. Er musste uralt sein. Noch jemand, den die
Dorfbewohner fürchteten. Er kam nur selten in Dorf und kaufte Lebensmittel und
andere lebenswichtige Dinge ein, die er nicht selbst herstellen konnte, um dann
wieder für ein ganzes Jahr im Wald in seiner Hütte zu verschwinden. Niemand
hatte je seine Hütte betreten, niemand außer Leandriis. Sie war der einzige
Gast, den die Kate je beherbergt hatte. Sie war größer als es von draußen den
Anschein hatte. Sauber, reinlich und ordentlich. Keine unnötigen Dinge standen
herum. Der Wohnraum enthielt nur einen Kamin, einen großen Sessel und ein
schmales Bett. Das einzige was hier verschwenderisch wirkte, war ein riesiges,
mehrstöckiges Regal, randvoll mit Büchern beladen. „Bücher sind Früchte des
Geistes, sie hauchen dem Raum Seele ein“, pflegte der Alte zu sagen.
Von ihm hatte
Leandriis in einsamen Stunden lesen und schreiben gelernt. Und auch das Zählen
sowie viele andere Dinge. Dinge, die ein einfaches Bauernmädchen, als das sie
aufwuchs, niemals gelernt hätte. Doch dieser Mann lehrte Leandriis Dinge, die
für sie schier unglaublich waren. Als Feach war sie mit einer gewissen
Grundintelligenz zur Welt gekommen, aber so etwas hatte sie noch nie gesehen.
Er war auch der Einzige, der sie Leandriis nannte. Nicht Lea und auch nicht
irgendwie anders, sondern einfach Leandriis. Für ihn schien dieser Name nicht
mit dem Makel der alten Furcht behaftet zu sein, für ihn war es einfach ihr
Name. Zudem hatte er eine unglaubliche Geduld mit ihr und wurde nie böse oder
schrie sie an. Lea fühlte sich bei ihm wohl. So wohl wie selten in der
Gesellschaft von anderen Menschen. Nur ihre Pflegeeltern mochten es nicht, wenn
sie sich bei dem „alten Kauz“ herumtrieb, wie sie es ausdrückten. Nie nannte
ihn jemand beim Namen. Es schien auch niemand zu wissen wie er hieß. Nicht
einmal Leandriis wusste es. Trotz Marthas Ermahnungen machte sie sich jeden Tag
die Mühe und folgte dem Waldweg bis zu seiner Hütte. Denn dort wollte sie sein.
Im ruhigen, duftenden Wald mit seinen tausend Eindrücken und beim alten Mann,
der sie all die tollen Sachen lernte. Das war ihre Welt und diese konnte ihr
niemand nehmen. Dies zumindest war ihre tiefste Überzeugung.
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