[Kurzgeschichte] Von einer eisigen Königin

Sonntag, 1. März 2015

Es war einmal, denn so beginnen alle Märchen, in einem wunderschönen tiefgrünen Land, mit seinen unzähligen dichten Wäldern und seinen tausenden von kristallklaren Seen ein glückliches Königspaar. Sie waren hochgeachtet und wurden von ihrem Volk abgöttig geliebt und verehrt. Seit Jahrhunderten währte nun bereits ein tiefer Frieden über das Land, welches in Wohlstand und Anmut erblüht war. Nur eines war den beiden versagt, ihr sehnlichster Wunsch: ein Kind, welches ihre Liebe perfekt gemacht hätte. Doch egal wie oft sie es versuchten, was sie auch versuchten, es entstand kein neues Leben in der Königin. Voller Gram und Schuldgefühlen zog sich die Königin immer weiter in ihrer Trauer zurück und entfernte sich weiter und weiter von ihrem Mann, dem König, bis sie eines Tages voller Einsamkeit starb. Eine große Trauer legte sich über das Land und überall wurde gewispert, sie wäre an einem gebrochenen Herzen gestorben. Der König indes wurde schweigsam und versank in der Dunkelheit seiner Seele, die vor Schmerz und Einsamkeit zerrissen war. Und vor Schuldgefühlen, denn er machte es sich zum Vorwurf, nicht mehr für seine Frau dagewesen zu sein, sie nicht genug unterstützt zu haben. Er gab sich die Schuld an ihrem Tod, denn er liebte sie so sehr, dass er sich sicher war, an seiner Seite hätte sie bis zum gemeinsamen sterben leben können. Wäre er für sie nur stark genug gewesen, doch er hatte versagt. Hatte sie alleine in ihrem Schmerz gelassen, hatte sie verraten.
Drei lange Jahre sollte das Königreich in Traurigkeit versinken, bis … ja, bis eine bildschöne Prinzessin das herunter gekommene Schloss des Herrschers betrat und die gleißend helle Sonne mitbrachte. Geblendet von ihrer Schönheit entbrannte der König in unsterblicher Liebe zu ihr und vergaß seine Trauer und all sein Schmerz. Vergessen waren die letzten Jahre der Schatten und eine neue Königin betrat den Thron. Doch diese Frau war nicht nur wunderschön mit ihrem Alabastergesicht, ihren tiefschwarzen Haaren und den ozeanblauen Augen, sondern auch hinterlistig und herrschsüchtig. Die Bewohner des Landes kamen nicht umhin, diese Bosheit in ihren kalten Augen wahrzunehmen, das Gift, welches ihr von den Lippen troff, wenn sie zu ihnen sprach. Nur einer war vollkommen blind für all dies, der König selbst, der in Liebe entflammt war und alles andere einfach übersah. Die Königin selbst lebte nur für ihre Spiegel. Spiegel, die ihre Schönheit reflektierten. Spiegel, die ihr ihre Vollkommenheit zu wisperten. Spiegel, die ihre besten Freunde waren. Jede Wand, jede freie Fläche des Königsschlosses war bedeckt mit den kristallklaren Glas und ein jeder Spiegel leuchtete geradezu von ihrer Schönheit.
Doch auch diese Majestätin schenkte dem König kein Kind. Oh schwanger war sie. Mehr als nur einmal, aber sie wusste zu verhindern, dass das Balg in ihr wuchs, dass sie dick und unansehnlich wurde, ihr ihre Schönheit nahm. Denn das war alles was sie liebte, ihre unvergleichbare Schönheit!
Die Zeit verrann. Tag um Tag. Woche um Woche. Monat um Monat. Jahr um Jahr. Und auch die wunderschöne Königin alterte. Erste Falten gruben sich in ihr Gesicht. Missgunst schlich sich in ihr Herz. Und all die wundervollen Spiegel, die einst ihre besten Freunde gewesen waren, begannen ihr ihr wahres Gesicht zu zeigen. Grau gezeichnet vom Alter. Das nachtschwarze Haar von silbrigen Strähnen durchzogen. Ihre tiefblauen Augen müde. Flecken überall auf ihrer Haut. Und zugleich vernahm sie ihre eigene Stimme, krächzend wie ein Rabe. Alt! Dieses Wort grub sich tief in ihr Bewusstsein ein und ließ unstillbare Wut in ihrem Herzen Einzug halten. Neid beschlich sie, Neid auf jedes Wesen was jünger und schöner war als sie selbst und schließlich, schließlich begann sie ihre besten Freunde zu befragen, die Spiegel!
Doch die Spiegel waren dumm, dumm und dazu feige, denn sie hatten Angst, Angst davor zerschlagen, zersplittert, zerstört zu werden, zu erblinden. Doch die Königin erhielt ihre sehnlichste Antwort und mit dieser Antwort ging zum König. Und sie tat etwas, was sie noch nie zuvor getan hatte. Sie flehte! Sie weinte! Sie schrie! Sie tobte! Und schließlich brach sie zusammen.
Der König, der dies nicht mit ansehen konnte und dessen Herz schmerzte, weil seine geliebte Frau nicht glücklich war, weil er sie nicht glücklich machen konnte, so wie es jetzt war, tat schließlich was sie verlangte.
Er begann seine Soldaten aus zu schicken, um ein unschuldiges, junges und wunderschönes Mädchen zu rauben. Denn das war es, was die Spiegel der untröstlichen Königin als Hinweis gaben. Wahre Schönheit und Jugend konnten nur erhalten werden, wenn man das noch frische und warme Herz einer Jungfrau aß und sie musste dazu wunderschön sein, denn nur dann konnte sich die gesamte Magie dessen entfalten. Und es stimmte. Die Königin wurde wieder jung und wunderschön. Und umso gefürchteter. Zunächst reichte ihr ein Herz im Jahr, doch umso älter sie wurde, umso schneller verflüchtigte sich der Zauber. Immer schneller wurde aus der jungen hübschen Frau wieder die alte Vettel, die vor Missgunst und Selbsthass auf ihr Alter zerfloss. So kam es, dass innerhalb kürzester Zeit die Töchter den Vätern geraubt wurden, welche versuchten, ihre Kinder zu verstecken und außer Landes zu bringen um sie schützen.
So kam es, dass es bald keine jungen, schönen Frauen mehr im Königreich gab und die Königin musste ohnmächtig ihrem altern zu sehen, was sie rasend vor Hass machte. In das glatte, makellose Gesicht gruben sich tiefe Falten, ihre strahlenden Augen wurden stumpf und müde, das ehemals rabenschwarze Haar weiß und licht.
Sie verfluchte den König. Das Königreich. Und allen voran ihre Spiegel. Ihre einstmals besten Freunde zeigten ihr nun jede Sekunde des Tages ihr wahres Antlitz, hässlich und alt. Sie tobte. Sie schrie. Sie weinte. Sie flehte. Doch nichts passierte. Sie blieb wie sie war. Und das zerbrach das erstarrte Herz aus Eis in ihrem Brustkorb. Tausende von Splittern zerstoben auseinander. Alles zerstörende Dunkelheit bemächtigte sich ihrer und Schwärze floss ihr aus den Augen. Unter wütendem Geschrei zerbrach sie jeden einzelnen Spiegel, egal ob groß oder klein. Eigenhändig und voller Hass. Jeder ihrer Freunde zersplitterte in tausende kristallene Teile und spiegelte millionenfach die Dunkelheit der alten Frau wieder. Eine Dunkelheit, die die Königin nicht ertragen konnte. Doch sie machte weiter. Ein Spiegel nach dem anderen. Ohne Pause, ohne innezuhalten, in unbändigem Neid auf die jungen, wunderschönen Mädchen überall auf der Welt. Mittlerweile lief das Blut dunkelrot an ihren Armen herunter. Bespritzten das weiße Kleid, welches sie trug. Ohnmächtig zerbrach sie den letzten Spiegel. Keuchend stand sie im ehemaligen Spiegelsaal, barfuss, voller Blut, in hunderttausenden von Glassplittern. In diesem Moment ging die Sonne auf. In diesem Moment, in der es in der Königin am Dunkelsten war. Sie selbst war zerfressen von ihrem eigenen Hass. Und in diesem Moment streckte sich ein Sonnenstrahl vorwitzig in den Spiegelsaal. Nur ein kleiner winziger Strahl, der sich jedoch in jedem kleinen Splitter brach und hundertfach gespiegelt wurde. Der Raum flammte auf vor Helligkeit und die Königin, welche schon nicht mehr die Königin war, schrie und schrie und schrie und wie ein wildes Echo brachen sich die Schreie im gesamten Schloss. Sie schrie solange bis die Dunkelheit in ihr zerbrach. Schwarze Fäden schlängelten sich aus ihren Augen und verließen diesen alten, zerbrechlich gewordenen Körper. Das war der Augenblick, indem die Königin starb und in diesem Moment wurde ihr bewusst, was die Lösung, die wahre Lösung, gewesen wäre. Ihre Jugend und ihre Schönheit hätten weiter leben können, aber sie war dumm gewesen und hatte sich in den falschen Ideen verrannt. Hatte den falschen Freunden vertraut. Freunde, die jetzt zerstört überall um sie herum lagen. Zum ersten Mal in ihrem Leben war ihr Lächeln nicht kalt und berechnend, sondern warm und verstehend. Sie schloss die Augen und wünschte sich etwas. Tief, fest und voller Liebe. Dann hauchte sie den letzten Atemzug ihres Lebens aus sich heraus und starb.
Der König hatte das Schreien seiner Frau vernommen, aber er blieb sitzen. Er war müde, alt und hatte zudem endlich erkannt, dass seine Königin ein hinterlistiges Spiel mit ihm getrieben hatte, aber es war ihm egal. Alles was er sich wünschte, war seine Ruhe zu haben. Die Kraft hatte ihn verlassen. Er wusste, dass sein Reich in Angst und Schrecken lebte. Wusste, dass alles was er erreicht hatte, nun von den Taten seiner Frau überschattet wurde. Er war traurig und vor allem war er einsam geworden. Was ihn jedoch am meisten betrübte, war, dass sein sehnlichster Wunsch niemals in Erfüllung gegangen war. Wie sehr er sich doch ein Kind gewünscht hatte. Und nun würde er alleine sterben, das Königreich ohne Führung zurück lassen und die Erinnerung an sich selbst auslöschen, denn niemand würde sich nach seinem Tod mehr seiner erinnern.
Seufzend stand er schließlich auf und ging von Gram gebeugt durch sein Schloss und betrat schließlich den Spiegelsaal. Was ihn dort erwartete verschlug ihm die Sprache. Überall glitzerte es. Sonnenstrahlen brachen sich in den Spiegelscherben. Dunkelrotes Blut zeichnete ein bizarres Muster auf diesen. Und inmitten diesem Chaos lag eine schwarze Rose, eine tiefschwarze Rose mit einem weißen Rand. Neugierig ergriff der König die filigrane Blume und bemerkte erst jetzt den Zettel, der am Stiel festgebunden war. Vorsichtig entrollte er ihn und las ihn mit Tränen in den Augen.
Ich war Euch niemals eine Königin. Ich war dem Land nie eine Königin. Alles was ich war, war ein Nichts. Es tut mir Leid für all den Schmerz, die Furcht, die Dunkelheit. Doch nun möchte ich Euch und eurem Land etwas schenken. Damals, als ich das halbe Jahr zu meiner Schwester fuhr, habe ich euch ein Kind geschenkt. Ein wunderschönes kleines Mädchen. Ihr Name ist Ariadne.


Der König war überglücklich und konnte sein Kind wenige Zeit später in die Arme schließen. Sie war wahrhaft wunderschön. Helle, alabasterfarbene Haut, lange nachtschwarze Haare, alles von ihrer Mutter geerbt, aber die Augen, die Augen hatte sie von ihm. Moosgrün mit goldenen Sprenkeln. Und sie glich in keinster Weise ihrer Mutter. Ihr Wesen war offen, warmherzig und die Menschen liebten sie. Das Königreich begann endlich wieder aufzublühen. Sonne ergoss sich in alle Herzen und die Menschen vergaßen ihre Furcht, die Entbehrung der letzten Jahre. Ariadne sorgte dafür, dass ihre Mutter vergessen wurde und niemand grollte dem alten König mehr, welcher glücklich und zufriedener war als jemals in seinem Leben und daran hatte nicht nur seine kleine wunderschöne Prinzessin Anteil sondern auch die Schwester der ehemaligen Königin, die ihr Ziehkind begleitet hatte und die neue Königin wurde. Zusammen wurde das Königspaar uralt und lebte ein glückliches und zufriedenes Leben, immer begleitet von Ariadne, des Königs ganzer Stolz.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute, denn so endet schließlich jedes Märchen, auch meines.

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